Woher die Schlehe ihre weißen Blüten hat…
Vor langer Zeit hielten die Pflanzen im Wald eine Versammlung ab. Sie forschten nach dem
Gewächs, dessen Zweige dereinst dem Heiland als Dornenkrone solche Pein gebracht
hatten. Die Wildrose konnte es nicht sein, ihre Ranken hatten viel zu feine und zu weiche
Stacheln. Auch vom Weißdorn fiel der Verdacht ab, waren seine Äste doch gar nicht
biegsam genug. Schließlich blieben nur der Kreuzdorn und die Schlehe übrig.
Forsch meldete sich der Kreuzdorn zu Wort: „Ich hätte ja schon längst ausgesagt,
aber ich musste doch auf die Schlehe aufpassen. Die wollte sich klammheimlich aus der
Affäre ziehen – aber ich habe sie an ihren Ausläufern festgehalten. Sie streckte den
Soldaten von Jerusalem ihre schwarzen Zweige entgegen, drängte sich ihnen förmlich auf!“
Die Schlehe versuchte, sich gegen diese schweren Beschuldigungen zu wehren. Doch weil
der Kreuzdorn gar so bestimmt gesprochen hatte, hörten ihr die anderen Pflanzen gar nicht
mehr zu. Mit Schimpf und Schande jagten die Pflanzen die Schlehe davon.
Mit hängenden Ästchen saß sie nun traurig am steinigen Abhang. Doch der liebe
Gott, der alles gesehen hatte, kam zur Schlehe und tröstete sie. „Du kannst gar nichts dafür,
liebe Schlehe – kein Gewächs hätte seine Ranken freiwillig gespendet.“ Und er schenkte der
Schlehe zum Zeichen ihrer Unschuld ein reinweißes Blütenkleid. Das darf sie bis heute in
der Osterzeit tragen. Auch zum Kreuzdorn ging der liebe Gott. Der aber kreuzte voller
Scham seine Zweige. Und trägt sie bis heute so.
Eine andere Geschichte…
Am Karfreitag war einer der Soldaten von Pilatus ausgeschickt worden, um Dornen für die Marterkrone Christi zu holen. Er schnitt zuerst Zweige der wilden Rosen, doch am Rückweg kam er an einem Schlehenbusch vorbei, dessen starre spitze Seitentriebe ihm sofort auffielen. Er dachte, dass diese besonders schmerzhaft stechen müssten und nahm einige Zweige mit. So kam auch die Schlehe in die Dornenkrone des Heilands. Dem Strauch tat das furchtbar leid, und es war ihm eine rechte Pein, dass seine Stacheln dazu beitragen sollten, dem Sohne Gottes Schmerzen zu bereiten.
Die Schlehe war gerade am Aufblühen gewesen, als der Soldat den Zweig mitnahm. Das war dem Strauch jedes Jahr eine liebe und schöne Zeit gewesen, auch wenn nie jemand seine Blüten bewundert hatte. Doch nun hatte er jegliche Freude du Lebenskraft verloren, und die Knospen blieben ungeöffnet. Da geschah es, dass in einer warmen Frühlingsnacht der auferstandene Jesus des Weges kam, und er blieb bei dem trauernden Schlehenbusch stehen.
„Verzeih mir Herr, ich wollte wahrlich nicht, dass meine Stacheln dir in der Dornenkrone Weh bereiten. Miss mir bitte keine Schuld bei und gewähre mir deine Gnade“, wisperte die Schlehe. „Wie könnte ich dir die geringste Schuld geben, du liebe Schlehe. Sei ganz getrost! Und damit alle Menschen wissen, dass du keine Schuld an meinem Schmerz trägst, will ich deine Blüten das Zeichen deiner Unschuld tragen lassen. So werden sich alle Menschen, die das erkennen, schätzen und lieben.“ Seither ist der Schlehenstrauch im Frühjahr, noch lange bevor seine Blätter erscheinen, über und über mit unschuldsweißen Blüten bedeckt, und alle Menschen, die vorbeigehen, freuen sich über diese Frühjahrspracht.
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